Die Romanze

 

Ein Streichholz fuhr über die Reibfläche und verursachte einen zischenden Laut. Sie erschrak beinahe, obwohl ihre eigenen Hände diese Tätigkeit ausführten und sie bereits seit längerer Zeit eine Zigarette zwischen den Lippen hatte. Doch ihre Gedanken kreisten um ganz andere Dinge und genauso mechanisch wie dieses Feuer entstanden war, führte sie das brennende Holz zu der Zigarette und zog einmal tief ein, löschte es durch eine schnelle Bewegung der Hand und warf es achtlos durch das, einen kleinen Spalte geöffnete Wagenfenster. Dabei blickte sie starr durch die Windschutzscheibe vor sich auf ein ganz bestimmtes Haustor, als ob sie es hypnotisieren wollte. Nun war es wieder still und finster. Ab und zu tickte es in dem abkühlenden Motor, doch auch das gab sich allmählich. Sie wartete. Ihre Finger waren kalt und unruhig, und ihr Herz klopfte, dass sie vermeinte es hören zu müssen. Wie lange sie wohl schon da wäre, überlegte sie, doch sie musste sich eingestehen es nicht zu wissen. Der Begriff Zeit war ihr verloren gegangen, sie wusste auch, dass sie solange warten würde bis er käme, und es machte sie gar nicht nervös, dass sie wartete. Eine Art Ruhe hatte von ihr Besitz ergriffen, eine Art Ruhe die zugleich die höchste Stufe der Aufregung darstellte, ein Bewußtsein, dass man nur warten konnte, dass jede Bewegung und Tätigkeit sinnlos wäre, und die Zeit bis zu dem erwarteten Ereignis nicht beschleunigen könnte.

 

So saß sie still, fast wie eine Statue und fühlte eine gewisse Befriedigung in diesem Warten, die ihr Sicherheit gab und Zeit sich zu fassen. Sie fühlte plötzlich glücklich zu sein, diesen Wagen zu besitzen und nicht auf der Straße stehen zu müssen und den Belästigungen nächtlicher, womöglich nicht ganz nüchterner Passanten ausgesetzt zu sein. Sie kostete diese Geborgenheit aus und strich wie liebkosend über das Lenkrad. Sie nahm auf diese Weise Verbindung mit dem Auto auf, flößte ihm durch ihre Gedanken Leben ein und gewann dadurch einen Freund und Komplizen ihres nächtlichen Abenteuers. Und war es nicht ein riskantes und aufregendes zugleich? Sie, üblicherweise ein sittsames und braves Hausmütterchen, gut verheiratet und die Vernunft über alles stellend, fuhr des Nachts einzig und allein dem Gefühl folgend durch die Straßen, stand in einer fremden Umgebung, wartete auf einen Mann, der nicht der ihre war und wusste nicht einmal was sie erwartete, und was sie überhaupt hier wollte. Aber das Gefühl war stärker als sie, die Vernunft hatte die Macht über ihren Körper verloren und jetzt regierte ein Gefühl das ihr sagte, daß sie diesen Mann liebte, egal was daraus werden würde.

 

Die Zeit verging, sie wartete. Inzwischen hatte der blaue Rauch ihrer Zigarette den kleinen Raum des Wagens mit einem unangenehmen Nebel erfüllt, der ihre Augenlider schwer machte und ihr sogar einige Tränen entlockte. Sie kurbelte das Fenster ganz hinunter und atmete befreit die frische Luft ein. Doch ein klein wenig ihrer Geborgenheit gab sie damit auf, das merkte sie und horchte auf das ferne Getöse des flutenden Verkehrs auf der nahen Durchzugsstrraße. Noch immer fixierte sie das bestimmte Haus, doch es rührte sich nichts. Sie wollte auf ihre Uhr schauen, sah jedoch, daß diese stehen geblieben war mit ihrem Alltag und so fühlte sie sich jetzt außerhalb der Zeit, sehnte sich nach ihm und hoffte auf sein Kommen.

 

Und dann kam er. Sie hörte von weitem schon das Geräusch eines Wagens, wagte nicht zu glauben, dass es der Seine sei, sah ihn um die Ecke fahren und vor dem Haustor anhalten. Dann ging alles sehr schnell. Ohne eine Überlegung drehte sie den Startschlüssel kurz nach rechts, trat in die Kupplung, legte den ersten Gang ein, gab viel Gas, so dass der Motor aufheulte, schoss förmlich vorwärts und hielt kurz darauf mit einer scharfen Bremsung dicht neben seinem Wagen. Er war gerade dabei seinen Wagen abzusperren als er sie bemerkte. Er sah beinahe fassungslos aus und kam langsam und unsicher auf sie zu. Sie erschrak fast vor der Tatsache, dass er nun wirklich gekommen war und wartete bis er ganz nahe bei ihr stand. „Was machst du denn da“, begann er erstaunt anstatt jeglicher Begrüßung. Die Frage entbehrte jeden Sinn und wirkte geradezu komisch in dieser Situation. Deshalb antwortete sie im gleichen Ton: „Ich fahre nur spazieren und schaue mir die Gegend an.“ Er lächelte und begriff die Sinnlosigkeit seiner Frage. Wie das selbstverständlichste Ding der Welt wies er ihr einen Parkplatz an und setzte sich neben sie.

 

Lange schwiegen sie und hingen den eigenen Gedanken nach, bis sie schließlich wie zum Hohn für die außergewöhnliche Situation in der sie sich befanden irgendein belangloses Thema anschnitte und darüber plauderten. Doch dann war die Frage plötzlich wieder da, wenn auch in anderer Form und in einem anderen Ton: „Warum bist du hierher gekommen“. „Ich weiß es nicht“. „Bin ich dir für einen Seitensprung gut genug?, fragte er weiter. „Nein“, flüsterte sie und verschwieg ihm, dass er ihr weit mehr bedeuten könnte. „Wenn du aus einem bestimmten Grund gekommen bist, muss ich dich enttäuschen. Ich bin nicht der Mann, der solche Gelegenheiten ausnützt“, meinte er schließlich. „Gott sei Dank“, sagte sie, so brauche ich morgen wenigstens nichts zu bereuen.“ „Bereust du, daß du hergekommen bist?“ „Nein“, antwortete sie schnell. Er legte den Arm um ihre Schultern und sie saßen schweigend nebeneinander. Sie wusste, dass sie jetzt unsagbar glücklich war und dankbar, daß sie nicht mehr geben brauchte um dieses Glück fühlen zu dürfen, aber gleichzeitig kam ihr zum Bewusstsein, daß sie ihm alles geben würde, wenn er sie liebte. Aber noch war die Vernunft in ihr stark genug und sie begriff, dass sie ihm nichts bedeutete als eine kurze sentimentale Stunde einer Nacht des Mannes, der einzig und allein bestrebt war im Leben vorwärts zu kommen und den Kopf voller Zukunftspläne hatte, die mit den Träumen einer kleinen unbedeutenden Frau nichts gemein hatten. Sie konnte es ihm auch nicht verdenken, wenn er nicht gerade gut von ihr dachte, er kannte sie ja kaum, doch dieser Abend mußte ihn eines Besseren belehren. „Was kann schon werden zwischen uns“, begann er von neuem, „nicht mehr als eine Romanze.“ „Romanzen können sehr schön sein, sagt man“, antwortete sie. Sie blickten sich schweigend in die Augen, und aus dem Schweigen wurde ein Kuss, ein Kuss ganz dieser Stille angepaßt, ohne Leidenschaft und Begehren nur mit reinem Gefühl, und sie wußte plötzlich warum sie hierher gekommen war. Um diesen Kuss zu empfangen, der sie beglückte und ihr gleichzeitig die Erfüllung und das Ende dieser Romanze bedeutete.

 

Morgen würde sie aus diesem Traum erwachen, fühlen, daß es ein Traum bleiben müßte und doch glücklich sein, ihn erlebt zu haben. Er würde, wenn ihn das Licht des morgigen Tages und somit sein Leben wieder gefangen genommen hat, kaum noch einen Gedanken an sie verschwenden. In diesem Bewusstsein verabschiedete sie sich von ihm und ihrer Romanze und kehrte zurück in ihren Alltag.

©sarah66