DURCHSCHNITT

 

Meine Kindheit verlief in geordneten Bahnen. Ich war ein Durchschnittskind, durchschnittlich brav, durchschnittlich hübsch und durchschnittliche begabt. Aber dieses Durchschnittliche kam mir nie zum Bewusstsein. Die schützende Hülle unserer Familie gab mir die trügerische Gewissheit, weit über dem Durchschnitt zu liegen. Von allen vier Kindern war ich die intelligenteste, die einzige die eine Mittelschule besuchte und schließlich Matura machte. Mein Maturazeugnis war wieder Durchschnitt, aber zu Hause war es das einzige und wurde gebührend gefeiert. Meine Brüder habe ich als Feiglinge in Erinnerung. Sie waren total unsportlich, entweder aus Veranlagung, woran ich nicht ganz glaube, oder auf Grund ihrer Lebensumstände. Während andere Buben unserer Umgebung auf die Straße geschickt wurden, da es in den meisten von den Bomben verschonten Wohnungen zu wenig Lebensraum gab, spielten wir in einem Garten hinter unserem Haus und meistens waren Mädchen in der Überzahl. Meine Brüder lernten früher die Namen unserer Puppen auseinander zu halten, als sich gegen Artgenossen zu verteidigen. „Vater, Vater leich ma d’Scher“ war ihnen geläufiger als Kicken, Stollenspielen oder gar eine Bombenruine gegen eine andere Bubenbande zu verteidigen. So unnatürlich und vernünftig die Ehe unserer Eltern war, so steril und problemlos gedachten sie auch unsere Kindheit zu gestalten, und sie gaben ihr Bestes oder glaubten es zumindest. Sie bauten uns eine Wunderwelt auf in der Gut und Böse schwarz und weiß waren und in der es keine Nuancen dazwischen gab. Sie glaubten uns das schuldig zu sein nach ihrer eigenen gestohlenen Kindheit, nach den schrecklichen Ereignissen des Krieges, vielleicht um wieder gut zu machen, etwas das sie zwar nicht bewusst verursachten, an dem sie sich jedoch nicht völlig unschuldig glaubten. Gewissensbisse für etwas, was ihnen von ihren Eltern genauso vorgemacht wurde, bis sie nicht anders mehr konnten. Genauso gut gemeint, wie sie es jetzt meinen, wenn sie uns die heile Welt vormachen, bloß mit dem Unterschied, dass ihnen der Krieg ein jähes Ende ihres Glaubens bescherte, dass wir aber in eine Welt hinausgehen würden, die zwar Frieden hatte,, aber lange nicht so heil war, wie sie es uns glauben machen wollten, und dass wir Jahre brauchen würden zu erkennen, wie wichtig gerade die Grautöne für das Bestehen im Leben sind, oder alt werden würden, ohne es jemals zu erkennen und schließlich Versager werden müssten.

 

Ich glaube ich habe nie gelernt Durchschnitt zu ertragen oder ich habe es erst lernen müssen, als es fast zu spät war. Es ist wie das Notensystem in der Schule, eins ist sehr gut, fünf ist nichtgenügend und mit den drei Noten die dazwischen liegen wusste ich mir nichts anzufangen. Eins, das ist alles was weiß ist, alles was mir meine Eltern vorgelebt hatten, Anständigkeit, Treue, Verlässlichkeit, Opferbereitschaft, Heldentaten, Heiraten, Kinderkriegen, erlernter Beruf mit Abschlussprüfung, morgens aufstehen, arbeiten, abends schlafen, Sex nach der Heirat, den Teller leer essen, Vater und Mutter ehren, die Erwachsenen zu respektieren, die Hausparteien zu grüßen, am Karfreitag in die Kirche zu gehen. Nichtgenügend, das war das andere, was wir als Kinder besser gar nicht zu kennen hatten. Geldsorgen, ledige Mütter, politische Meinungen, Ehebruch, Kritik an den Älteren und vieles mehr. Welch weiten Weg musste ich gehen um zu erkennen, dass weiß das hellste Schwarz und schwarz das dunkelste Weiß ist. Dass Grau den Löwenanteil des Lebens ausmacht und dass man lernen muss, es zu ertragen.

 

Manchmal denke ich darüber nach, warum ich über dreißig werden musste, bevor ich anfing zu leben. Bewusst zu leben, genau das Leben, das meinen ureigensten Wünschen und Vorstellungen von dem entsprach was wesentlich ist, wenn es einem gelingt aus den abertausend Stunden zwischen Geburt und Tod die wenigen herauszufühlen in denen man die Unendlichkeit der menschlichen Seele ahnt, in denen sich das wunderbare Ich herausschält aus der Haut, die ihm ein willkürlicher Zufall zugedacht hat. Man ist nicht mehr Frau soundso geboren am, Stand, Religion, Nationalität, man ist nur ein ganz kleines Pünktchen in einem großen Ganzen, das sich Universum nennt oder Schöpfung, aber gleichzeitig fühlt man mit tiefer innerer Befriedigung, dass ohne dieses Pünktchen die ganze wunderbare Natur nicht mehr bestehen könnte, weil jedes einzelne dieser Teilchen wie ein Zahnrad in ein anderes greift, das Leben anderer beeinflusst, neues Leben zeugt oder gebärt, das es keinem anderen in der Jahrtausend langen Geschichte der Menschheit gleicht und durch nichts zu ersetzen ist als wieder durch sich selbst in seiner grenzenlosen Einmaligkeit. Und dieses herrliche Ich erlebt man dann plötzlich in den unwahrscheinlichsten Situationen ganz wenige Stunden zwischen den vielen, in denen man ein Leben führt, das einem durch Geburt, Erziehung und Ausbildung auferlegt ist und in dem keine Zeit ist, darüber nachzudenken ob es das ist, was der eigenen Persönlichkeit optimal entspricht.