Heidi

 

Sie ist die Tochter meines Freundes, zumindest glaubte sie das. Er hat sie großgezogen, die Tochter jener Frau, die er geheiratet hat als er selbst noch Schutz und Halt suchte, die ihn versorgt und hätschelt wie eine Mutter ihren Sohn, die ihm aber niemals Frau und Gefährtin sein kann, zu groß ist der Altersunterschied zwischen ihnen und zu verschieden ist ihre Lebensauffassung. Dieses Kind, das da aufwuchs liebte er und tat sein Bestes bis zu dem Zeitpunkt, da sie die Schwelle der Kindheit zu überschreiten begann und er im wahrsten Sinn des Wortes die Übersicht verlor. Da war ein junger schöner Körper neben ihm, der ihn vielleicht manchmal seine eigene Jugend spüren ließ, der Stolz auf sie, die wie er glaubte sein Werk war, die Angst sie zu verlieren, wenn er nicht mitmachte was sie begeisterte und der unbewusste Wille ihr das alles zu bieten, was die Mutter zum Teil durch ihr Alter, zum Teil durch ihre eigene Farblosigkeit und Interesselosigkeit nicht imstande war. Er ging mit ihr tanzen, Eis laufen und zeigte sie überall stolz herum. Und dann kam ihr erster Freund, auch ihn nahm er besitzergreifend bei sich auf, nahm ihnen jede Chance auf romantische Heimlichkeit, war noch stolz darauf ihnen alles zu erlauben, ließ sie bereits mit 14 Jahren mit ihm in Urlaub fahren und vergaß dabei, dass dieses Kind zwar äußerlich erwachsen war, aber dass er ihren innerlichen Reifeprozess durch dieses Vorwegnehmen von eigenen Entschlüssen verzögerte, wenn nicht sogar verhinderte. Ich, die dem allen kommentarlos von außen zusehen musste, da wir zwangsläufig oft zusammen waren, machte mir meine eigenen Gedanken, die ich jedoch größtenteils für mich behielt, da ich bald herausfand, dass er am liebsten alles laufen ließ, wie es eben lief, Problemen tunlichst aus dem Wege ging und auf den geringsten Versuch meinerseits ihn vor den Konsequenzen dieses Tuns zu warnen, sorglos und ungeduldig reagierte. Sein Vertrauen zu ihr war übertrieben, es passte bestenfalls zu ihrem erwachsenen Aussehen, niemals aber zu ihrer kindlichen Seele. Nicht einmal als sie Ohrfeigen von ihrem so genannten Freund bekam fand er den Mut als Vater ein entscheidendes Machtwort zu sprechen und diesem Bürschchen die Tür zu weisen. „Es wird schon wieder werden, was soll ich denn machen, ich kann es nicht ändern, ich schaffe es nicht!“ So in etwa seine Lieblingsausdrücke, die er überall da anwendet, wo seine Feigheit vor der Wahrheit ein Ausmaß erreicht, das an der Grenze des Unerträglichen ist.

 

Und dann kam der Bruch, vielleicht das erste Sinnvolle in ihrem jungen Leben. Aber was nun? Jetzt begann sie eine Frau zu werden, eine Persönlichkeit zu entwickeln, die eines Tages weit über der Vorstellungskraft ihres Vaters liegen wird. Zurück zu den Eltern, das ging nicht mehr. Sie konnte nicht plötzlich wieder Kind werden und zu Hause mit Puppen spielen. Aber sonst -  ihre Mutter hatte sie spätestens damals verloren als es ihr wichtiger erschien ihrem Mann und seiner Geliebten nachzuspionieren, als sich um das halbwüchsige Mädchen zu kümmern -  als sie bedenkenlos ihr Tagebuch aufbrach, nicht um die Gedanken ihres Kindes kennen zu lernen, sondern um vielleicht Beweise der Untreue ihres Mannes zu finden. Beweise, die dieses Kind von Anfang an hatte, weil sie mich kannte, bei mir ein und ausging, und über das Verhältnis zwischen mir und ihrem Vater von Anfang an Bescheid wusste, und es sogar billigte. Ihr angeborener Instinkt als Frau gönnte ihm diese Liebe, noch dazu verschaffte es ihr Vorteile wie Partys in meiner Wohnung, die Möglichkeit lange aufzubleiben und mit ihrem Freund beisammen zu sein. Außerdem weiß ich, dass sie mich von Anfang an mochte. Ihr Vater hatte zwar nicht aufgehört sie zu lieben, ihr Bestes zu wollen, aber er hatte verlernt sie zu verstehen und ihr Bestes einschätzen zu können. Und plötzlich hatte sie mich und sie nistete sich langsam aber sicher in meiner Wohnung und in meinem Leben ein. Heute weiß ich welche Verantwortung ich da übernommen habe als ich es duldete, anfangs aus Mitleid, später aus einem wahren Gefühl für sie und aus meiner inneren Bereitschaft einem Menschen alles zu geben, was ich zu geben vermag, der sein Leben so vertrauensvoll in meine Hände legt. Ich weiß zwar, dass diese intensive Beziehung nichts Dauerhaftes ist, es wäre auch nicht gut für sie, aber ich hoffte, sie über die Zeit hinwegzubringen, die sie noch jemand brauchte, bis sie stark genug ist ihr Leben zu meistern, woran ich fest glaubte. Sie wird nicht wie ihre Mutter, sie wird selbständig und stolz und auch nicht wie ihr Vater, sie wird mutig und lebenstüchtig. Alles was ich dazu beitragen kann, alles was in meiner Macht steht, wird geschehen. Und mein schönster Lohn wird es sein, zu sehen, dass sie mich eines Tages nicht mehr braucht, dass all die Hoffnungen, die ich in sie setze verwirklicht sind und dass sie dann noch ab und zu bei mir vorbeischaut

 

Und da sitzen wir nun bei einem Glaserl Wein bei einem burgenländischen Heurigen und reden, und plötzlich ihre Frage: „Eines würde mich interessieren, ob mein Vater wirklich mein Vater ist.“ „Wie kommst du darauf?“, fragte ich erschrocken. Und nun erzählte sie mir, dass sie schon mehrmals gehört hätte, er wäre nicht ihr leiblicher Vater. Einmal von einer Hauspartei und später von ihrem Freund. Zunächst versuchte ich sie abzulenken, wechselte das Thema, aber kurz darauf war die Frage wieder da, sogar um eine Spur ernster. Ich wusste, ich könnte noch ausweichen, ich brauchte nur einfach zu sagen, ich wüsste darüber nicht Bescheid, ich hätte mit ihrem Vater darüber nie gesprochen. Aber das stimmte nicht. Ich wusste es schon lange, und nicht nur ich, am Eislaufplatz wusste es jeder. Sie konnte es überall erfahren wenn sie nur wollte, aber wie würde man es ihr sagen und wer? Oft genug hatte ich meinen Freund gebeten mit ihr darüber zu sprechen bevor es jemand anderer tut, es wäre wichtig für ein Kind solche Dinge von den eigenen Eltern zu hören, liebevoll und in einer netten Stimmung. Man sollte so entscheidende Dinge nie dem Zufall überlassen, aber er schob es immer wieder auf. Er brachte den Mut dazu nicht auf und glaubte damit noch Zeit zu haben. Von ihrer Mutter war es noch weniger zu erwarten. Sollte sie heute freiwillig zugeben, dass sie, die damals fast Vierzigjährige mit einem ledigen Kind dastand, den jungen Burschen heiratet, damit dieser das Kind eines anderen aufzieht, und ihm seinen Namen gab, das ist wohl kaum von einer Frau zu erwarten, deren Gefühlsleben kaum über Putzen und Flicken hinausgeht. "Hast du mit deinen Eltern schon darüber gesprochen?“, fragte ich. „Ja!“ „Und was haben sie gesagt?“, „sie sagten, dass alles nur ein Gerücht sei, dass eine böswillige Frau ins Leben gesetzt hatte, die meinen Vater nicht leiden konnte.“ „Und deine Dokumente?“, „die habe ich noch nie genau angeschaut, ich weiß nur, dass meine Mutter mein Vormund ist, und das wundert mich schon lange, aber sogar das haben sie abgestritten als ich sie einmal danach fragte, sie sagten nur, sie wären beide erziehungsberechtigt.“ „Und du glaubst, dass ich der richtige Mensch bin, mit dir über solche Dinge zu reden?“ „Ja, das glaube ich, ich weiß, du lügst mich wenigstens nicht an.“ Es entstand eine längere Pause in der ich darüber nachdachte was ich jetzt zu tun hätte. Einerseits könnte ich jetzt aufstehen, zum Telefon gehen und ihren Vater anrufen. Aber ich glaubte zu wissen, dass er mir nur raten würde zu lügen, zu sagen ich wisse von nichts, und die ganze Geschichte nicht so tragisch nehmen sollte. Das würde mir wenig weiterhelfen. Er saß ja nicht hier an meiner Stelle, sah dieses junge Gesicht vertrauensvoll und gespannt auf sich gerichtet, wahrscheinlich würde er gar nicht ahnen, wie viel für dieses Kind davon abhing, wie ich mich jetzt verhalten würde. Als ob sie mein Zögern fühlen würde, sagte sie plötzlich, dass es ihr ganz egal wäre, ob er ihr leiblicher Vater sei, dass sich nichts ändern würde in ihrem Verhalten zu ihm, sie liebte ihn ja und wüsste was er für sie getan hätte, ganz im Gegenteil, wäre er ihr Vater, wäre das alles ganz normal, wenn er es jedoch nicht wäre, würde sie dies nur noch höher einschätzen und ihn dafür noch mehr achten. Und dann wieder: „Bitte lüg mich du nicht auch noch an.“ Und plötzlich wusste ich, dass es wirklich keinen anderen Menschen geben kann, der ihr die Wahrheit besser sagen könnte als ich, die ihren Vater liebt, die ihr volles Vertrauen besitzt und die selbst von einem Mann großgezogen wurde, der nicht mein leiblicher Vater ist, den ich aber liebe und verehre, wie keinen anderen auf der Welt. Ich begann ihr davon zu erzählen, um wie viel wichtiger ich die Jahre empfinde, die ein Mann mit seinem Kind verbringt, die Liebe die er ihm gibt, als die Tatsache auch von diesem Mann gezeugt worden zu sein. Wie bewundernswert es ist, wenn einer sich um ein fremdes Kind kümmert in einer Zeit, da Väter auf und davon gehen und ihre eigenen Kinder im Stich lassen, wie mein Mann. Sie hörte mir ruhig zu und dann fragte sie wieder: „Ist er nun mein Vater oder nicht?“ „Nein“, antwortete ich und merkwürdigerweise war ich jetzt ganz sicher das Richtige getan zu haben.

 

Sie saß eine Weile still da, dann stand sie auf und ging hinaus. Ihr Gesicht war blass und ernst, aber nicht verzweifelt. Ich ließ sie gehen. Ich hatte das Gefühl, sie musste jetzt allein sein, ein paar Minuten, vielleicht ein paar Tränen vergießen, ein bisschen frische Luft atmen. Ich wusste, dass sie die Wahrheit weniger belasten würde als die quälende Unsicherheit, die sie seit Jahren mit sich herumtrug. Nach einer Weile wurde ich unruhig, sollte ich ihr jetzt nachgehen, sollte ich jetzt vielleicht ihren Vater anrufen, hatte es sie vielleicht doch ärger getroffen als sie bereit war zuzugeben, aber da kam sie schon wieder. Ihr Gesicht hatte ein wenig Farbe zurückgewonnen, und sie versuchte sogar ein scheues Lächeln. Ein leises „Danke“ hat sie wohl mehr gehaucht als wirklich gesagt. Es wurde noch ein beschaulicher Abend und ich wusste, dass sich ihre Freundschaft zu mir noch um eine Spur vertieft hatte.