Papa

Irgendwann ist mein Papa gestorben, er ist so leise gestorben wie er gelebt hat. Und ich habe meine Mutter getröstet und meine Kinder, und mich, mich hat niemand getröstet, niemand hat mir über den Kopf gestreichelt, ein halbes Jahr nach seinem Tod bin ich draufgekommen, daß MEIN Papa tot ist und nicht nur der Mann meiner Mutter oder der Großvater meiner Kinder. Sein Tod hat meiner Mutter die Entscheidung abgenommen ihn in ein Pflegeheim geben zu müssen. Er ist einfach abgetreten von der Bühne des Lebens als er merkte, daß er anderen zur Last fallen würde. So einfach eingeschlafen ist er bevor er seiner Familie Probleme bereitet hätte. Und dann bin ich mit meiner Mutter ins Spital gefahren, seine Sachen abzuholen, zum Bestattungsunternehmen um sein Begräbnis zu regeln und in die Blumenhandlung um einen Kranz zu bestellen. Ich habe diesen Mann geliebt, und ich weiß, daß auch er mich geliebt hat. Ich war nicht sein leibliches Kind, aber er hat es mich nie spüren lassen. Er war kein Held, nicht einmal „tüchtig“, er wurde in den Krieg geschickt, ich kann mir weder vorstellen, daß er dort gekämpft noch dass er sich geweigert hätte. Ich weiß nicht, wann er jemals für sich selbst gedacht oder gelebt hätte. Er hat seine erste Frau geliebt, ich erinnere mich, ich war noch ein Kind oder ein Teenager, als er aus der linken unteren Schreibtischlade eine Schachtel herausnahm in der sich eine Locke seiner ersten Frau befand und diese liebevoll betrachtete und wieder an ihren Platz legte. Denn Ordnung mußte sein. Seine zweite Frau, meine Mutter, hat er wahrscheinlich sein Leben lang bewundert und verehrt, vielleicht aber nie geliebt. Sie war lebenstüchtig, sie hatte alles im Griff, sie schien das Leben zu meistern, sie war lebenslustig und gesellig, er war immer nur dabei, nie initiativ. In normalen Zeiten hätten sich die zwei Menschen nie kennengelernt, geschweige denn geheiratet, aber was dieser Krieg alles ausgelöst und bewirkt hat wird man erst in fernen Geschichtsbüchern bewerten können.

 

Als ich ein Kind war, war er ein „Fels in der Brandung“, er war für mich die Anständigkeit in Person, er war der, der sein gesamtes Gehalt, und das, was er in Überstunden verdienen konnte für seine Familie abgab um am ersten des Monats einen „Zwanzger“ in den Sack zu stecken, so für alle Fälle, den er am letzten dann immer noch besaß.

 

Er ist jeden Morgen x-mal gekommen um uns Kinder aufzuwecken, damit wir nicht zu spät zur Schule kamen, er ist mit uns Kindern Sonntag vormittag auf der Michaela-Wiese gesessen und hat mit uns auf Wien hinuntergeschaut, wo unsere Mutter gerade Schnitzel panierte, er hat uns durch die Museen geschleppt und war mit uns Kindern in der Perchtoldsdorfer Heide Schi fahren, mit Brettern ohne Stahlkanten, und einem Fahrschein, der nur bis Rodaun reichte, weil dann mußte man aufzahlen.

 

Er hat die Erziehung der Kinder weitgehend meiner Mutter überlassen, und das in einer Zeit in der es noch hieß „Unterschrift des Vaters“ bei jeder Zeugnisverteilung. Aber er hat uns geliebt und insbesondere mich, ich habe das immer gespürt. Und dann ist er gestorben und niemand hat mich getröstet.