Patchwork

Mein lieber Sohn!

 

Du stellst dich auf die Zehen und willst ihn küssen, einfach auf die Wange zum Abschied, wie du es noch sehr oft tust, obwohl Du schon so ein großer Junge bist. Und er, zu dem du Papa sagst, dreht den Kopf zur Seite und sagt: „Was soll das?“. Du zuckst zusammen und verlässt wortlos den Raum. Ich stehe daneben und ich weiß, welch eine Demütigung du soeben erfahren hast. und ich helfe dir nicht.

 

Du bist mein Sohn, und wenn du so bist wie ich, zumindest so ähnlich, war das dein letzter Versuch ihn zu küssen. Ich stehe wie so oft in letzter Zeit hilflos zwischen euch, zwischen dir, mein Sohn und dem Mann, den ich liebe. Ich sollte dir helfen und bin selbst hilflos. In diesen Sekunden erlebe ich wieder all die Nächte, in denen du verzweifelt nach deinem Vater gerufen hast, der dich verlassen hat und den du geliebt hast. Du konntest es nie begreifen warum er plötzlich nicht mehr da war und wahrscheinlich wirst du es auch nie begreifen. Und dann schreist du in der Nacht so laut, dass ich aufwache, dass ich mich an dein Bett setzte, deine Hand halte, dich streichle, und in der Früh weißt du nichts mehr davon. In diesen Nächten habe ich mit dir geweint solange, bis ich keine Tränen mehr hatte. Dann habe ich mir geschworen dir alles zu geben, was mir möglich ist und immer für dich da zu sein.

 

Aber was nützt der beste Vorsatz, wenn man in einer Männerwelt lebt, wenn ich die einzige Mutter bin, die ihr Bübchen zum Sportverein bringt unter lauter stolzen Vätern, die etwas verstehen von diesem Sport, eine Beziehung dazu haben, und in ihren hoffnungsvollen Sprösslingen das verwirklichen wollen, wozu sie entweder nie imstande waren, oder vielleicht auch durch Krieg und Nachkriegszeit keine Möglichkeit hatten. Und da stehe ich nun und erschrecke, weil mir vor der Garderobe ein nackter Trainer, der zur Dusche will über den Weg läuft. Ein mitleidiges Lächeln, denn was habe ich schließlich als Frau hier verloren. Du bist noch klein und noch nicht ganz selbständig, ich müsste dir eigentlich noch die Eislaufschuhe schnüren und deine Ausrüstung kontrollieren, aber ich möchte dir die Blamage nicht antun ein Muttersöhnchen zu sein, lieber lasse ich dich allein, ich hole dich nicht mehr ab, ich sitze zu Hause und zittere, wenn ein Match später aus ist, und du im Finstern alleine quer durch Wien unterwegs bist. Aber das brauchst du nicht zu wissen, ich schimpfe, wenn du später kommst, anstatt dich zu umarmen vor Freude, dass dir wieder einmal nichts passiert ist.

 

Dann kommen deine Lehrer und sagen du bist ein Flegel, und du bist faul in der Schule, und ich möchte, dass du ins Gymnasium gehst, dass du eine gute Ausbildung erhältst und es später einmal leichter hast in deinem Leben. Ich weiß du könntest es auch, aber da müsste  ich Zeit für dich haben, Zeit um mit dir zu lernen, Zeit deine Schule wichtig  zu nehmen und Zeit, dir „Lernen“ zu lehren. Aber ich habe diese Zeit nicht, oder nur ganz selten. Ich habe meinen Beruf, den Haushalt, und ich habe vor allem deine Schwester, die immer Probleme gemacht hat, und der es besser gelingt als dir, durch immer ärgere Exzesse auf sich aufmerksam zu machen und mich dadurch zwingt Zeit für sie zu haben, so dass ich von dir erwarte, du mögest das verstehen und Rücksicht darauf nehmen. Aber es ist natürlich klar, dass du so immer mehr Schwierigkeiten in der Schule bekommst, dass dir immer mehr fehlt, bis du schließlich resignierst und glaubst, du würdest es nicht schaffen. Und dann kommen die Lehrer und sagen mir: „Na, dem fehlt halt die starke Hand, der  hat ja keinen Vater!“. Und ich versuche strenger mit dir zu sein, aber wir schlittern dadurch beide noch tiefer in eine ausweglose Situation hinein.

 

Dann kamen deine Bemerkungen über Männer. Jeder, mit dem ich nur einmal ausgehe wird von dir als potentieller Vater taxiert, und du schlägst mir in deiner kindlichen Naivität sogar einige die dir imponieren und die ich nicht einmal  kenne, als mögliche Vaterkandidaten vor. Ich wehre mich dagegen, ich will nicht mehr heiraten, ich habe Angst davor. Ich möchte alleine bleiben, ich habe in der Zwischenzeit eine gewisse Selbständigkeit erlernt und möchte diese nicht wieder gegen ein fragwürdiges Abenteuer eintauschen. Aber wie das Leben so spielt, da kommt er eines Tages, der zu dem du  heute Papa sagst, den du vom ersten Augenblick vergöttert hast, und an den du dich geklammert hast, lange bevor ich mir selbst über meine Gefühle im Klaren war.

 

Aber dieser Mann hat auch einen Sohn, seinen Sohn, den er selbst einmal im Stich gelassen hat, den er aber nie vergessen hat und in den er die ganzen Hoffnungen seiner doch freudlosen Jugend und unglücklichen Ehe kompensiert. Dieser Sohn ist irgendwo, und du mein Junge bist ihm Ersatz, du bist gleich alt wie er, du bist lieb, Du bist ein hübsches und gescheites Kind, und du fällst ihm vorbehaltlos um den Hals und bist bereit ihm all das zu geben, was du lange Jahre aufgestaut hast.

 

Vielleicht ist er für dich auch nur Ersatz, Ersatz für deinen Vater, den du nie aufgehört hast zu lieben, obwohl du ihn heute hasst, aber das Leben wird dich noch lehren, wie nahe Liebe und Hass zusammen liegen. Aber du gibst diesem Ersatz alles, was du zu geben hast, und du gibst es ehrlich, weil du dir dessen gar nicht bewusst bist, und weil du keine Chance hast deinen Vater je wieder zu bekommen. Aber er bekommt seinen Sohn eines Tages, er bringt ihn zu uns, und wir nehmen ihn auf mit aller Selbstverständlichkeit der Welt. Du versuchst sogar ihn zu lieben, weil du seinen Vater liebst und weil dir aus deiner eigenen Erfahrung alle Kinder leid tun, die von ihrem Vater im Stich gelassen wurden. Vielleicht hättest du diesem, deinem neuen Bruder auch ewig einen Vorschuss gegönnt, wenn Du nicht in diesem Augenblick aufgehört hättest Ersatzsohn zu sein. Plötzlich bist du nur mehr ein unerzogener Flegel, ein faules Muttersöhnchen, ein Schwächling, und dieser andere, dein Bruder wäre ja viel besser als du, wenn er deine Möglichkeiten gehabt hätte.

 

Ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist, wenn du von nun an alles mit ihm teilen musst, auch mich, ohne das dafür zu bekommen, wofür Du solange gekämpft hast, zumindest die Hälfte „Papa“. Du wirst frech und provokant und rächst dich auf deine Weise, aber du ziehst immer den Kürzeren. Du bist nicht so hart wie er, du willst ihn küssen und er dreht den Kopf weg. Dein Bruder der kann nichts dafür. Ich glaube sogar, dass er in dieser Rolle nicht einmal glücklich ist, lasse es ihn nie spüren, so wie ich versuche es ihn nicht spüren zu lassen.

 

Dich aber, mein Sohn, bitte ich um Verzeihung, dass ich mit dem Mann schlafe, der dir einen harmlosen Kuss verweigert. Ich liebe ihn, und irgendwann in deinem Leben wirst du das vielleicht verstehen. Ich will ihn nicht verlieren, wenn ich mich heute nur auf deine Seite stelle. Ich verspreche dir, es soll dir nicht schlechter gehen als vorher, du sollst deine Mutter nicht verlieren, so wie ich dich mein Sohn niemals verlieren möchte. Ich verspreche dir auch, dass ich, wenn es gar nicht mehr anders geht, zu dir halten werde und auf alles verzichte, was meinem Leben noch ein bisschen Glück bringen könnte. Er darf dich nicht quälen und nicht kaputt machen, aber versuche auch mich ein bisschen zu verstehen. Ich kann mit diesem Mann noch schöne Jahre verleben, wenn du schon längst über alle Berge bist und dir dein eigenes Leben gezimmert hast. Wenn wir es bis dahin schaffen einander nicht zu verlieren, dann ist alle meine Mühe nicht umsonst. Verzeihe mir, aber ich liebe den Mann, den du nicht küssen darfst.

(c)sarah66