Traude

 

Sie war rein äußerlich eher eine unauffällige Person. Eine Frau, damals vierzig, auf die ein böses Schicksal bei der Ausgabe körperlicher Vorzüge total vergessen zu haben schien. Nichts an ihr war mit den Augen eines Durchschnittsmenschen als gefällig zu bezeichnen. Ihre Haare waren ein feines Etwas, an dem schon unzählige Friseure ihre Sünden abgebüßt hatten, ohne dass sich je ein Erfolg eingestellt hatte. Schon die Haarfarbe zu beschreiben fällt einem schwer, da sie eigentlich gar keine Farbe besaßen. Nach unzähligen Versuchen dieses Übel mit Tinkturen, Chemikalien oder einfach mit Lockenwicklern zu verbessern, hatte man schließlich nur mehr das Bedürfnis eine Perücke darüber zu setzen. Ihre Augen waren klein, etwas schräg gestellt, und wo bei Anderen Wimpern oder Brauen sind, konnte man nur erahnen, dass hier etwas Wesentliches fehlte. Ihre Nase war klein und abgerundet, außerdem fehlte ihr seit einer Operation der Geruchssinn, was die Sinnlosigkeit dieser Nase nur betonte. Ihre Zähne waren viel zu klein und standen auseinander, als ob einer auf den anderen böse wäre, trotzdem hatte man das Gefühl, sie könne damit eine Nuss öffnen. Ihr Teint war ledern und von einer Farbe, die gleichzeitig Sonnenbräune und unwahrscheinliche Blässe vortäuschte. Dieser Kopf nun saß auf breiten fast männlichen Schultern, die über starke muskulöse Oberarme zu zarten Handgelenken und äußerst feingliedrigen Händen führten. Neben diesen zarten Händen war eine wohlgeformte Brust das vielleicht einzig weibliche an ihrer ganzen Erscheinung. An sich, wie bei den Armen, besaßen auch ihre Oberschenkel übertrieben starke Muskel, während ihre Fesseln zart und gebrechlich wirkten, jedoch nichts Graziöses an sich hatten, da sie durch eine Achillessehnenverletzung keine hohen Absätze mehr tragen konnte, und ihr Gang eher plump wirkte. Alles in allem war der Durchschnittsgeschmack nicht imstande irgendetwas Reizvolles an ihr zu finden. Dennoch ging eine starke Ausstrahlung von ihr aus, die man beim ersten Hinsehen vor Schreck über dieses Missgeschick der Natur noch nicht erkennen konnte, die sich durch näheres Kennen lernen aber so verstärkte, dass man bereit war, all diese Äußerlichkeiten zu übersehen und sie schließlich nahm, wie sie war, ohne jemals wieder von ihr loskommen zu können. Diese Wirkung besaß sie ohne jede Raffinesse über alle Generationen von Menschen, über Kinder, ohne je selbst welche geboren zu haben, über alte Leute, ohne selbst alt zu wirken, über Männer, ohne je einen sofort bezaubert zu haben, und über alle Menschen einfach nur dadurch, selbst ein Mensch gewesen zu sein. Lag ihr Aussehen weit unter dem Durchschnitt dessen, was man allgemeingültig als normal bezeichnet, ebenso weit lag sie menschlich über dem Durchschnitt.

 

Sie besaß eine weit über das normale Maß hinausragende Menschenkenntnis, konnte sich in Menschen und Situationen hineindenken und war dabei verschwiegen und taktvoll. Jeder empfand es als angenehm, seinen Kummer bei ihr los zu werden, mit ihr zu sprechen, sie hatte eine Fähigkeit, die den meisten Menschen verloren gegangen war. Sie konnte zuhören, sie konnte trösten ohne zu belehren. Sie konnte beruhigen ohne Lüge und falsche Versprechungen. Sie blieb immer bei der Wahrheit, so ist es und irgendwie muss es weitergehen, ohne falsches Mitleid, aber mit einem Höchstausmaß an menschlichem Verständnis, als ob sie alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins selbst erlebt hätte und nachempfinden könnte. Aber letztlich hatte sie keine gut gemeinten Ratschläge, keine Rezepte übrig, sondern ihre Hilfe bestand einzig und allein darin, „bei mir kannst du abbauen, bei mir kannst du loswerden, aber dann musst du alleine weiterkommen. Ich kann dir Geld geben, wenn du eines brauchst, bei mir kannst du bleiben, wenn du nicht alleine sein willst, mich kannst du rufen, wenn du mich brauchst, ich kann dir jede Arbeit abnehmen, aber ich kann dir keine Entscheidung abnehmen, ja dir nicht einmal helfen sie zu treffen.“

 

Dabei ging sie fast niemals aus sich selbst heraus, teilte sich äußerst selten einer ganz intimen Freundin mit und bewältigte ihre nicht gerade kleinen Probleme stets alleine, so dass oberflächliche Menschen schließlich zu der Ansicht gelangten, sie hätte gar keine. Ihr Tod hinterließ in meinem Leben eine Lücke, die bis heute niemand schließen konnte.